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Kurzgeschichtensammlung

Ulrike Schrimpf und Axel Holst ist die erste literarische Mariage im Literatur Quickie. In dieser Ausgabe finden sich die verschiedenen 'Schreibstücke' zu einem hochkarätigen Erzählband zusammen. ,Blinde Versuche über das Töten: von Menschen' ist ein eigenartiges Geschreibe, das man sich unbedingt anlesen sollte.

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"Allein ich stehe außenvor. Ich sitze nicht in dem Kettenkarussell, sondern ich stehe davor, und meine Kinder fliegen an mir vorbei. Ich versuche ihre Blicke einzufangen, anzuhalten. Stillzustellen. Nur für einen Moment. Dass ich da bin, will ich ihnen zeigen, dass ich ihnen zusehe, dass ich sie verfolge, mit meinen Blicken, dass ich sie nicht allein lasse. Nie allein.

Aber immer bin ich zu langsam. Immer sehen meine Kinder genau in dem Moment, in dem sie an mir vorbeifliegen, woanders hin. Von unten, aus dem Boden, aus der Tiefe des Grundes wachsen Flammenzungen, zuerst klein und reizend. Die Flammenzungen

wachsen in die Vertikale, sie flackern und lodern, sie werden gierig und fordernd und lecken an den Beinen meiner Kinder, die lachen und rufen und winken. Die Flammenzungen wollen die Beine meiner Kinder auffressen, mit einem Mal ist mir das vollkommen klar.>"

aus: "Kettenkarussell"

 

"Ich verstehe schon lange kein Wort mehr von dem, was mein Bruder sagt. Das Einzige, was ich verstehe, ist, dass er unbehaust ist. Der Körper meines Bruders ist unbehaust, was ein furchtbares Gefühl sein muss. Ein nicht zu ertragendes Gefühl muss das sein, eins, für das Menschen nicht geschaffen sind. Ich will meinen Bruder vor seiner Unbehaustheit schützen, und ich will ihn auch vor ihr retten. Ich will mich an sein Bett setzen und seine Hand halten, wie früher, als wir klein waren, und ihm sein Lieblingsmärchen erzählen.

Ich erzähle Johannes das Märchen vom Pfannkuchen, der nicht gefressen werden wollte. Das habe ich früher, als wir klein waren, unzählige Male getan. Der Pfannkuchen rollt kantaper, kantaper durch die Welt, und alle wollen ihn auffressen, ein Schwein, eine Kuh, eine Schlange, nein, keine Schlange, bis er in die Hände von zwei ausgehungerten Kindern rollt, kantaper kantaper, die ihn sich schließlich einverleiben. Ich finde das unerträglich. Schon als kleines Mädchen fand ich, der Pfannkuchen hätte nicht aufgefressen werden dürfen am Ende des Märchens. Auch nicht von den hungrigen Kindern. Und ich finde das immer noch. Johannes aber hat das Ende immer geliebt, er hat es geliebt, wenn der Pfannkuchen endlich aufgefressen wurde. Das war der Höhepunkt der Geschichte für ihn. Jedes Mal, wenn ich die Stelle vorgelesen habe, hat er in die Hände geklatscht und gerufen: Aufgefressen! Ich aber war immer traurig, denn ich habe den Pfannkuchen gemocht. Wahrscheinlich habe ich sogar eine Art von Liebe für ihn empfunden: für den kleinen fetten, so wehrlosen Pfannkuchen, der vergebens um sein Leben rollte."

aus: "Zehn Erinnerungen: An meinen Bruder"

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